Die „FACK JU CORONA“ – Wand
Zu Beginn des Projekts, und nach mehreren Monaten Kurzarbeit, war es dem Team besonders wichtig, ein aktuelles Stimmungsbild zu erhalten und Gesprächsbrücken für den Wiedereinstieg zu gestalten. Auf Grund der Erzählungen der Jugendlichen mussten wir feststellen, dass erhöhter Gesprächsbedarf entstanden ist, besonders in Bezug auf familiäre Situationen, psychische Probleme und verstärktem Drogenkonsum.
Unter diesen Gesichtspunkten entstand dann schließlich die „Fack ju Corona“-Wand. Post-Its und Stifte bereitgelegt, hatten die Kinder und Jugendlichen die Chance ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Sie konnten ganz zwanglos niederschreiben was sie mit der momentanen Situation verbinden, was sie nervt oder sie vielleicht sogar gut finden, welche Erfahrungen sie mit der Nichteinhaltung der Corona-Verordnung machten oder wie sie mit dem Home-schooling zurechtkommen.
Es beteiligten sich so gut wie alle daran und wir können nun auf eine bunte, vielfältige und vor allem vielsagende „Fack ju Corona“-Wand blicken.
Unterteilen lassen sich die gesammelten Eindrücke und Aussagen hauptsächlich in die Kategorien „Jugendhaus“, „Schule“, „Familie“, „Stress“, „Catastrofe“ (ital. für Katastrophe) und „good vibes“.
Es folgt nun ein Auszug aus den Aussagen der Kinder und Jugendlichen:
„Jugendhaus“
– „Scheiße ohne Jugendhaus & Mädchen“
– „Jugendhaus zu lange zu“
– „Es ist scheiße wegen den Masken aber trotzdem geil, dass das Jugendhaus offen ist“
– „Alle Läden zu, Jugendhaus schließt und nur zwei Haushalte“
– „Jugendhaus soll offenbleiben!“
Diese Aussagen sind vor allem auf die dreimonatige Schließung des Jugendhaueses bezogen. In Gesprächen wurde deutlich, dass das Jugendhaus für viele wie ein zweites Zuhause ist, dass sie sonst auf der Straße rumhängen, weil sie es zu Hause nicht aushalten und ihnen durch die Schließung der Austausch mit Gleichaltrigen und der Peergroup aber auch den Pädagog*innen des Hauses fehlt (betreute Alternative zur Straße).
„Schule“
– „Man kommt in der Schule nicht mehr mit wegen online Unterricht“
– „Ich würde gerne zurück in die Schule“
– „Kein Bock auf Schule“
– „Homeschooling sucks“
In Bezug auf die momentane Bildungssituation wird im Besonderen die Schere zwischen der bildungsnahen und der bildungsfernen Schicht noch einmal extrem deutlich. Viele der Kinder und Jugendlichen des Jugendhauses SPEKTRUM müssen zu Hause unter erschwerten Bedingungen lernen. So leben viele von ihnen beispielsweise in beengten Wohnverhältnissen und haben kein eigenes Zimmer in das sie sich zurückziehen können oder ihnen fehlt die mediale Ausstattung. Außerdem wird ihnen durch das Wegfallen des Präsenzunterrichts der tägliche Kontakt mit ihrer Peergroup und die gewohnte Alltagsstruktur genommen, was für viele zusätzlich belastend ist.
„Familie“
– „Dass ich meinen Vater im Gefängnis nicht besuchen kann“
– „Meine Tochter kennt nur Corona“ (jugendliches Elternpaar)
– „Mehr Zeit mit der Familie“
– „Viel Streit zu Hause“
– „Man kann seinen Eltern und Geschwistern nicht mehr aus dem Weg gehen“
– „Meine Familie nervt“
– „Ständig Diskussionen wegen raus gehen“
Für viele der Kinder und Jugendlichen ist vor Allem die Situation zu Hause sehr belastend. Durch das Wegfallen des Präsenzunterrichts an den Schulen und die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen bleibt für viele nur die Möglichkeit sich illegal im freien mit Freunden zu treffen oder zu Hause zu bleiben. Da in einigen Familien die Wohnsituation, wie oben bereits beschrieben, sehr beengt ist, kommt es immer wieder zu Konflikten mit den Eltern und/oder den Geschwistern. Durch die zeitweise geschlossenen Jugendhäuser wurde ihnen auch diese Anlaufstelle genommen und sie hatten keine Möglichkeiten mehr sich auf legalem Weg mit ihren Freunden zu treffen.
„Stress“
– „Fuck the Police“
– „Ausgangssperre ist scheiße, man darf mit nicht so vielen raus“
– „Ausgangssperre ist ekelhaft und unnötig“
– „Zu hohe Strafen“
– „Polizei beobachtet alle“
– „Maskenpflicht nervt“
– „Viel größerer Hass auf Polizei“
– „I hate rules“
– „Corona ist ein H-Sohn“
Hier wird besonders deutlich, dass die, durch die Corona-Verordnung entstandenen Gesetze und Regeln, von den Kindern und Jugendlichen als unnötig und nervig betrachtet werden. Durch das nichteinhalten der Ausgangssperre, der Maskenpflicht und den Kontaktbeschränkungen kamen viele von ihnen mit der Polizei oder dem Ordnungsamt in Berührung. Es wurden Geldstrafen und Sozialstunden verhängt. Viele von ihnen halten diese Sanktionen für übertrieben und nehmen sie als Schikane wahr. Einige sind, noch mehr als ohnehin schon, sehr wütend auf die Exekutive und machen dies auch deutlich.
Unsere Aufgabe als Pädagog*innen des Hauses ist es, die Beamten der Polizei und des Ordnungsamtes hauptsächlich vor den Jugendlichen „in Schutz zu nehmen“, ihre Arbeit und den Sinn der Maßnahmen zu erklären und Verständnis dafür zu schaffen, dass es sich auch nur um Menschen handelt, die ihren Beruf ausüben.
„Catastrofe“
– „Voll schade, dass man mit vielen nicht raus gehen kann aber hoffen wir mal alles kommt ins alte“
– „Auf jeden Fall zu lange haben wir Corona“
– „Menschen werden verrückt, weil sie nichts mehr Soziales erleben“
– „Weniger Kontakt mit Menschen gehabt“
– „Solidarität?!“
– „Man hat keinen Spaß mehr am Leben, weil man jeden Tag nur noch das Selbe erlebt“
– „Corona nervt, im Sommer ist einem mit Maske zu heiß und es hat nichts offen was Spaß macht“
– „Man kann keine Bräute in Clubs aufreißen. Ich vermisse Partys. Online-Dating suckt“
– „Es stört an Corona, dass die Geschäfte schließen mussten und Angs haben ihre Läden zu verlieren“
– „Generation Z kann keine Erfahrungen mehr machen“
– „Viele verlieren ihre Arbeit“
– „Die Unbeschwertheit fehlt“
– „Kein Sport – Fußball“
– „Corona geh bitte weg!“
– „Man hat einfach keine Jugend“
– „Alles so kompliziert“
– „Depressionen und häusliche Gewalt steigen“
– „Die Maskenpflicht nervt!“
– „Depressiv und man fängt an mit Drogen“
In dieser Kategorie wird das ganze Ausmaß der Corona-Pandemie noch einmal wirklich deutlich. Es zeigt, in wie vielen Bereichen sich die Kinder und Jugendlichen eingeschränkt fühlen. Einige Aussagen haben selbst uns, als erfahrene Pädagog*innen, sprachlos und traurig gemacht. Vor allem die Angst davor etwas zu verpassen, keine Erfahrungen machen zu können und die aufregendste Zeit des Lebens zu Hause verbringen zu müssen, ist für viele der Kinder und Jugendlichen mitunter am schlimmsten. Eine ganze Generation sitzt daheim, ohne persönlichen Kontakt mit ihrer Peergroup, ohne die Möglichkeit sich zu treffen und gemeinsam etwas zu erleben und ohne Erinnerungen zu schaffen, von denen sie später erzählen können. Einer ganzen Generation wird das „weißt du noch damals als wir 15/16/17 waren…“ genommen.
„Good Vibes“
– „Mehr Lust auf Veränderung“
– „Familiäre Beziehungen verbessern sich“
– „Man hat Zeit für sich“
– „Corona = mehr Platz im Kino, I love it“
– „weniger Schule“
– „Habe festgestellt: Ich habe super Freunde“
– „Mehr Zeit für mich selbst gehabt“
– „Mich ins Positive geändert“
– „Weniger Menschen sind unterwegs, vielleicht besser für die Umwelt“
– „Durch die Maskenpflicht riecht man während Ramadan den Mundgeruch nicht“
Diese letzte Kategorie unserer „Fack ju Corona“-Wand zeigt, dass die Pandemie auch gute Seiten hat. Da man gezwungen ist, viel mehr Zeit mit sich selbst zu verbringen, entdeckten viele neue Seiten an sich, haben ihre Denkweise überdacht und eventuell geändert und sich mit sich, ihrer aktuellen Situation und ihrer Zukunft auseinandergesetzt. In einigen Fällen haben sich die Beziehungen zu Eltern und Geschwistern verbessert und ein harmonisches Zusammenleben ist wieder möglich. Besonders an Tagen, an denen kein Ende der Pandemie in Sicht scheint und die nächste Partynacht noch eine ganze Weile undenkbar ist, sollten wir uns an diese „Good Vibes“ erinnern und versuchen den Kopf nicht in den Sand zu stecken.
Es wird schon wieder alles gut werden.